Ein wahres Leben ist ein Leben, in dem wir unsere privaten Sehnsüchte aufgeben und ein Leben für das Allgemeinwohl führen. Diese Wahrheit wird von allen bedeutenden religiösen Leitern in der Vergangenheit und Gegenwart gelehrt – in Ost und West, von Jesus, Buddha und dem Propheten Mohammed. Das Wissen um diese Wahrheit ist weit verbreitet; es scheint jedoch, dass sie abgewertet worden ist. Der Lauf der Zeit oder die Veränderungen in der Welt können aber den Wert dieser Wahrheit nicht schmälern. Das ist so, weil das Wesentliche des menschlichen Lebens sich nie verändert, selbst wenn sich die ganze Welt um uns herum rasant verändert.
Der Lehrmeister, der uns am nächsten steht, ist unser Herz. Unser Herz ist für uns wertvoller als unsere engsten Freunde und sogar wertvoller als unsere Eltern. Daher müssen wir im Laufe unseres Lebens regelmäßig unser Herz fragen: „Lebe ich jetzt ein gutes Leben?“ Jeder kann sein Herz sprechen hören. Wer einmal erkannt hat, dass das Herz sein Meister ist, wird sein Herz „polieren“ und sein ganzes Leben lang eine enge Beziehung mit seinem Herzen beibehalten. Wenn man sein Herz weinen und schluchzen hört, dann sollte man sofort innehalten. Was dem Herzen Leid verursacht, wird eine Person ruinieren. Was das Herz traurig macht, lässt diesen Menschen in Trauer verfallen.
Damit der Mensch sein Herz so polieren kann, dass es so klar wie ein Kristall wird, muss er unbedingt Zeit im direkten Gespräch mit seinem Herzen verbringen, abgeschieden von der Welt und allein mit seinem Herzen. Es wird eine Zeit intensiver Einsamkeit sein, doch der Augenblick, in dem wir unserem Herzen näherkommen, ist die Zeit des Gebets und der Meditation. Es ist eine Zeit, in der wir die wahren Eigentümer unserer Herzen werden können. Wenn wir uns vom Lärm der Welt um uns herum abwenden und unseren Gedanken erlauben, zur Ruhe zu kommen, können wir in die tiefsten Bereiche unseres Herzens blicken. Der lange Weg in uns hinein wird viel Zeit und Anstrengung erfordern, bis wir dorthin gelangen, wo unser Herz ruht. Das geschieht nicht innerhalb eines Tages.
So wie Liebe nicht nur unseretwegen da ist, sind auch Glück und Frieden nicht für uns allein da. Genau wie Liebe niemals ohne Partner existieren kann, gibt es ohne Partner weder Glück noch Frieden. All das kann nur im Kontext einer Beziehung mit einem Partner existieren. Nichts kann erreicht werden, wenn wir allein leben. Wir können nicht allein glücklich sein oder allein über Frieden reden. Da uns ein Partner zu Glück und Frieden befähigt, ist der Partner wichtiger als wir selbst.
Stellen Sie sich eine Mutter vor, die ein Baby auf ihrem Rücken trägt, am Eingang einer U-Bahn-Station in Seoul sitzt und selbstgemachte Snacks an die vorbeieilenden Menschen verkauft. Damit sie rechtzeitig an einem solchen Platz in der morgendlichen Hauptverkehrszeit sein konnte, hat sie vielleicht die ganze Nacht mit der Zubereitung der Snacks verbracht. Dann hat sie ihr quengelndes Kind auf ihren Rücken genommen und ist zur Station gekommen. Passanten mögen sagen: „Oh, alleine könnten Sie ganz gut zurechtkommen, wenn Sie nicht für dieses Kind sorgen müssten.“ Aber die Mutter lebt ihr Leben zum Wohl ihres Kindes.
Heute liegt die Lebenserwartung ungefähr bei 80 Jahren. 80 Jahre Freude, Ärger, Sorgen, Glück und all die anderen Emotionen zusammen scheinen eine lange Zeit zu sein. Aber wenn wir die private Zeit davon abziehen, die eine Person zum Schlafen, Arbeiten und Essen braucht, und dann die Zeit, in der wir reden, lachen, mit unserer Familie und unseren Freunden Spaß haben, an Hochzeiten und Begräbnissen teilnehmen und in der wir krank im Bett liegen, bleiben nur noch etwa sieben Jahre übrig. Eine Person kann 80 Jahre leben, aber davon bleiben nur sieben Jahre, um für das Wohl der Allgemeinheit zu wirken.
Das Leben ist wie ein Gummiband. Die gleichen sieben Jahre können von zwei unterschiedlichen Menschen wie sieben oder wie 70 Jahre gelebt werden. Die Zeit an sich ist leer. Wir müssen sie mit Aktionen füllen. Das Gleiche gilt auch für das Leben eines Menschen. Jeder möchte in seinem Leben einen angenehmen Platz zum Schlafen und gute Dinge zum Essen haben. Doch Essen und Schlafen lassen einfach nur die Zeit vergehen. In dem Moment, in dem ein Mensch sein Leben aushaucht und sein Körper zur letzten Ruhe in die Erde gelegt wird, sind aller Wohlstand und Ruhm nicht mehr als eine Seifenblase, die zergeht. Nur die sieben Jahre, in denen der Mensch für das Gemeinwohl gelebt hat, werden als Erinnerung und Vermächtnis für die Nachwelt bleiben. Diese sieben Jahre sind alles, was in der Welt übrigbleibt von einem Leben, das 80 Jahre gedauert hat.
Wir kommen nicht in diese Welt noch gehen wieder von ihr aus eigenem Willen. Es ist uns nicht gegeben, unser Schicksal zu bestimmen. Wir wurden geboren, ohne dass wir es uns ausgesucht hätten. Wir leben, obwohl wir uns das nicht aussuchen konnten. Wir werden sterben, ohne dass wir es uns aussuchen können. Wir haben über diese Aspekte unseres Lebens keine Verfügungsgewalt. Wie können wir uns dann brüsten, besser zu sein als andere? Wir können nicht auf eigenen Wunsch hin geboren werden, Dinge besitzen, die für immer uns gehören, oder unseren Tod vermeiden. Irgendeine Prahlerei unsererseits wäre somit jämmerlich.
Selbst wenn wir in eine höhere Position als andere aufsteigen, ist doch die Ehre, die damit verbunden ist, nur vorübergehend. Auch wenn wir mehr Besitz anhäufen als andere, so müssen wir diesen an der Schwelle des Todes zurücklassen. Geld, Ehre und Wissen werden eines Tages fortgespült und verschwinden mit den Jahren. Wie vornehm und großartig jemand auch sein mag, er hat nichts als ein bedauernswertes Leben, das in dem Moment endet, wenn der Lebensfaden reißt.
Die Menschen haben immer damit gerungen, zu begreifen, wer wir sind und warum wir leben. So wie wir nicht aus unserem eigenen Willen geboren sind, so ist unser Leben auch nicht für uns selbst. Zu dieser Erkenntnis müssen wir gelangen. Die Antwort auf die Frage, wie wir unser Leben führen sollen, ist daher einfach. Wir wurden aus der Liebe geboren und so müssen wir auch auf dem Pfad der Liebe durch unser Leben gehen. Unser Leben wurde geschaffen, indem wir die grenzenlose Liebe unserer Eltern empfingen. Darum müssen wir diese Liebe unser ganzes Leben lang zurückzahlen. Das ist der einzige Wert, den wir im Laufe unseres Lebens selbst wählen können. Der Erfolg oder der Misserfolg unseres Lebens hängt davon ab, wie viel Liebe wir in diese 80 Jahre, die uns gegeben sind, hineinpacken.
Jeder wird irgendwann einmal seinen physischen Körper wie ein altes Gewand ablegen und sterben. Im Koreanischen wird das Wort „zurückkehren“ als allgemeiner Ausdruck für Sterben verwendet. Zurückkehren heißt, dass wir dorthin zurückgehen, von wo wir gekommen sind. Das heißt, wir gehen zu unseren elementaren Wurzeln zurück. Im Universum bewegt sich alles in Zyklen. Der weiße Schnee, der sich in den Bergen sammelt, schmilzt und fließt die Abhänge hinunter, zuerst in Bächen, dann in Flüssen, die am Ende ins Meer münden. Dort absorbiert das Wasser die Wärme der Sonnenstrahlen und wandelt sich zu Wasserdampf, der in den Himmel aufsteigt und sich darauf vorbereitet, entweder zu Schneeflocken oder zu Regentropfen zu werden. Auf diese Weise zu unserem Ausgangsort zurückzukehren, nennen wir Tod. Wohin kehren wir Menschen zurück, wenn wir sterben? Körper und Herz kommen zusammen und schaffen menschliches Leben. Sterben ist der Akt, durch den wir den Körper ablegen. Wir kehren also dorthin zurück, von wo das Herz gekommen ist.
Wir können nicht über das Leben reden, ohne auch über den Tod zu sprechen. Wir müssen genau verstehen, was der Tod ist, auch wenn wir das nur deshalb tun, weil wir den Sinn des Lebens verstehen wollen. Welche Lebensweise einen echten Wert hat, kann nur ein Mensch verstehen, der in einer extremen Situation den Tod vor Augen hat und voller Verzweiflung zum Himmel fleht, noch einen Tag länger leben zu dürfen. Wenn unsere Tage dermaßen wertvoll sind, wie sollten wir sie dann leben? Was müssen wir erreichen, ehe wir die Schwelle des Todes überschreiten?
Am wichtigsten ist es, nicht zu sündigen und ein Leben zu führen, das keine dunklen Schattenseiten hat. Es gibt viele religiöse und philosophische Debatten darüber, was Sünde ausmacht, aber es ist doch klar, dass wir uns nicht auf Handlungen einlassen sollen, die uns Gewissensbisse verursachen. Wenn wir etwas tun, das uns ein schlechtes Gewissen bereitet, hinterlässt das immer einen Schatten in unserem Herzen.
Die zweitwichtigste Sache ist, sich vorzunehmen, wesentlich mehr zu arbeiten als andere. Unser Leben ist begrenzt, es mag 60 Jahre oder 70 Jahre dauern oder eine andere Zeitspanne betragen. Es kommt darauf an, wie wir diese Zeit nutzen. Dann können wir ein Leben führen, das zwei oder drei Mal ergiebiger ist als ein anderes. Wenn wir unsere Zeit in Segmente aufteilen und jedes Segment sinnvoll leben, wird unser Leben wirklich wertvoll.
Lasst uns mit Hingabe und Sorgfalt leben und zum Beispiel sagen, dass wir zwei oder drei Bäume pflanzen möchten in derselben Zeit, die andere für einen brauchen. Lasst uns nicht nur für uns selbst leben. Wir sollen nicht für uns selbst leben, sondern für andere, für unsere Nachbarn mehr als für unsere Familie; für die Welt mehr als für unser eigenes Land. Alle Sünden dieser Welt entstehen dann, wenn der Einzelne sich selbst an die erste Stelle setzt. Individuelles Verlangen und Ambitionen schädigen die Nächsten und richten die gesamte Gesellschaft zu Grunde.
Alles in der Welt wird letztlich vergehen. Die Eltern, die wir lieben, der Ehemann oder die Ehefrau, die wir lieben, und die Kinder, die wir lieben, werden alle sterben. Alles, was am Ende unseres irdischen Lebens bei uns bleibt, ist der Tod. Wenn ein Mensch stirbt, bleibt nur sein Vermächtnis.
Lasst uns einen Augenblick lang überlegen, wie wir zeigen können, dass wir ein wertvolles Leben geführt haben. Die Besitztümer und die soziale Position, die wir während unseres Lebens angesammelt haben, werden wegfallen. Sobald wir den Fluss des Todes überschritten haben, wird all das keine Bedeutung mehr haben. Weil wir in Liebe geboren wurden und unser Leben in Liebe gelebt haben, ist Liebe das Einzige, was bei uns bleibt, wenn wir in unserem Grab liegen. Wir empfangen unser Leben in Liebe, geben Liebe während unseres Lebens weiter und kehren zum Mittelpunkt der Liebe zurück. Es ist wichtig, dass wir unser Leben so leben, dass wir ein Vermächtnis der Liebe hinterlassen.